Südamerika - Licht und Schatten

22. Februar - 22. März 1987

Städtisches Museum Göttingen
Ritterplan 7/8, D-37073 Göttingen
Telefon: +49-(0)551-400.2843
www.museum.goettingen.de

Ein weiß getrichener großzügiger Raum in einer ehemaligen Fabrik, durch dessen große Fenster mit den kleinen quadratischen Scheiben im Gitterrahmen aus Bandeisen helles Licht fällt, das teilweise durch weiße Vorhänge gedämpft werden muß - das ist Nicole Eisenbergs Atelier in Iserlohn. Und hier malt sie Bilder, die eine ganz andere, durch die Jahre ihres Aufenthalts in Buenos Aires von ihr erfahrene und - im Wortsinn - erlebte Welt darstellen. Natürlich - da gibt es auch schon die ersten Anfänge, die jetzige Umgebung bildlich zu erfassen, ihre Seh-Erfahrungen umzusetzen, doch ist, wie sie selbst sagt, ihr Kopf noch so voll mit Eindrücken und Bildern aus Südamerika, die auf den Malgrund gebracht werden wollen, daß sie daran noch lange arbeiten wird.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Menschen - an Nicole Eisenbergs Bildern ist das deutlich zu erkennen: Sie hat ihre Technik und ihre Mittel weiterentwickelt, aber sie ist auch - und das freut den Betrachter ihrer Arbeiten, der die früheren kennt - sie selbst geblieben, hat nichts verändert um eines gewollten Neuen willen, sondern ihr Sehen und das Umsetzen in Malerei in einer nachvollziehbaren Kontinuität ausgeweitet, sich mit neuen technischen Verfahren diese behutsame und doch unverkennbare Entwicklung allmählich erarbeitet.

In Göttingen kennt man ihre Arbeiten, die mit Metallfolie und Lack, manchmal auch mit Ölfarbe weite Landschaften schilderten, deren Farbigkeit überwiegend durch Grau- und Silbertöne bestimmt waren. Eindrücke einer Nordafrika-Reise im Jahre 1976 änderten ihr Repertoire an Motiven und brachten ihren Bildern eine neue, hellere Farbigkeit, die den von ihr auf der Reise erlebten Lichtverhältnissen entsprach. Schon in dieser Zeit wurde spürbar, wie sie immer stärker dahin tendierte, die vorher hauptsächlich durch die Verwendung von Metallfolie erzielten Lichtwerte in ihren Bildern allein mit den Mitteln der Farbe zu gewinnen. Erste Experimente, die hiesige, ihre damalige, Umgebung zu schildern, führten zu großflächigen Ölbildern, deren Farbigkeit gänzlich auf Grün- und Blautöne abgestimmt war.

Dann folgte Buenos Aires - nicht als Reiseziel, sondern als Ort, an dem die Künstlerin leben und arbeiten sollte. Eine riesige Stadt voller krassester sozialer Gegensätze auf der südlichen Hemisphäre öffnete sich der Malerin, und sie fand mit Erstaunen: Das silbrige Licht an den Ufern des Rio de la Plata, der dadurch seinem Namen „Silberfluß” alle Ehre macht. Sie fand aber auch die spezielle erdige Farbigkeit des südamerikanischen Kontinents, dazu die Menschen, südländisch in ihrem Temparament, heftig in Fröhlichkeit und Trauer, voller Eitelkeit und Schmuckbedürfnis. All dieses zu verarbeiten, reizte sie und kostete doch auch Zeit und längere Betrachtung, ehe es sich in ihre künstlerische Arbeit erfügen ließ.

Immer wieder ist es der große Fluß - in seinen Ausmaßen eigentlich eine riesige Meeresbucht -, den sie schildert, seine vielfältige, täglich sich wandelnde Farbigkeit, die doch stets durch das silbrige, gebrochene Licht bestimmt ist. In diesen Arbeiten wird der Kenner von Nicole Eisenbergs früheren Bildern vieles wiederfinden, was ihm geläufig ist: Da ist die oft im Bildgrund schwimmende, flimmernde Horizontlinie, die fast schmerzhafte Helligkeit des Lichtes über dem Wasser zeigt, den Übergang zwischen Wasser und Himmel fließen läßt; da ist der hohe Himmel, dessen atmosphärische Erscheinungen eben dieses Licht dämpfen, und da findet sich der schmale Uferstreifen, oft übersät mit Abfall, den Ausscheidungen der Millionenstadt, die in der Malerei nur eben angedeutet werden, den Bildern die notwendige Verfestigung geben und dabei doch auch den kritischen Blick der betrachtenden, erfahrenden und malerisch umsetzenden Künstlerin deutlich machen.

Daneben ist es die Stadt selbst, die Nicole Eisenberg einen schier unerschöpflichen Schatz von bildlichen Motiven vor Augen führt - die großen „Avenidas” mit ihrem nicht abreißenden Strom an Autos, die repräsentativen Plätze mit allen möglichen Monumenten, deren mehr oder weniger hohes Pathos die Künstlerin durch die Vereinfachung der Formen sichtbar macht. Man findet aber auch die kleinen typischen Elemente des großstädtischen Lebens wie die „Bicicleta de reparto”, den „Fahrradladen” des Kaffeeverkäufers auf der Straße, mit dem Behälter für Thermoskannen, den ein kleiner Blumenstrauß krönt - Zeichen der Freude an Schmuck und Farben, die Nicole Eisenberg immer wieder als eine, wenn nicht die Lebensäußerung sieht, die durch alle Bevölkerungsschichten hindurch sich findet. Neben solchen Bildern, die das neue Repertoire an Motiven schon verdeutlichen, finden sich nun auch - erstmal im Schaffen der Malerin - die Menschen der großen Stadt, vereinzelt in manchen Bildern, ausgesetzt als schemenhafte Erscheinungen dem Moloch Stadt mit seinen riesenhaften Straßen- und Platzräumen und seinen monumentalen Architekturen, dann aber auch stärker als Individuum gesehen: Eine sich schminkende Frau in einem Zugfenster zum Beispiel oder die Gäste einer Confiteria - getrennt vom Betrachter durch eine Glasscheibe, ein „Bild im Bild”, das durchaus ausschließenden Charakter hat. Neben den Schilderungen der „besseren Viertel”, in denen die Reichen wohnen, zeigen die Arbeiten von Nicole Eisenberg aber auch die Vorstädte, die das Zentrum der Stadt umfangen und meilenweit ins Land wuchern, triste Gegenden, Straßen mit einfachen Häusern, oder das Hafenviertel des „Barrio La Boca”, ebenso trist, weit entfernt von den malerischen Vorstellungen, die sich mit dem Begriff „Hafenviertel” verbinden.

Ein zentrales Bild, das alle möglichen Aspekte von Buenos Aires zu einer neuen, ganz ungewohnten Schau zusammenschließt, zeigt im Zentrum die „Plaza de Mayo”, weltweit bekannt geworden durch die Frauen und Mütter, die sich hier versammelten und Anklage erhoben geben das politische System in Argentinien, das ihre Ehemänner und Söhne verschleppt und ermordet hat. Ungewohnt im Werk von Nicole Eisenberg ist, daß sie dabei auf ihre gewohnte Sehweise im Sinne der Zentralperspektive verzichtet und den Platz in schräger Sicht von oben darstellt, ihn auch in seiner ausgeprägten, leicht erdigen Farbigkeit zur stärksten Aussage im Bild macht. Zu seinen Seiten reihen sich andere Motive aus der Stadt an, Hochhäuser, Straßen mit Autos usw., die unmißverständlich aussagen, daß hier ein Raum in der Stadt geschildert ist, der nur im Kontext mit ihrem Ganzen - und die Stadt ist hier Symbol für das Land und für dessen politische Dimension, den Staat - gesehen werden kann.

In allen diesen Bildern finden wir das unverwechselbare Licht, dessen Silbertöne die allgegenwärtige Nähe des riesenhaften „Rio” imaginieren lassen, das die sichtbare Atmosphäre der Stadt Buenos Aires bestimmt. Die Arbeiten aus der ersten Zeit bedienen sich wieder der uns aus den Göttinger Bildern geläufigen Technik: Fragmente von Aluminiumfolie werden zur Kennzeichnung höchster Lichtintensität benutzt, und auch die Grautöne - wenngleich aufgehellt, quasi durch das Licht des Südens verdünnt - finden sich wieder, sind nun aber stärker durch die lichte Farbigkeit geradezu lasierend erscheinender Ölmalerei differenziert und variiert. Bald darauf ersetzt Nicole Eisenberg die metallenen Flächen durch Aluminiumpulver, dessen matten Glanz sie durch Verwendung eines einfachen Fixativs unangetastet läßt. Auf diese Weise entscheidet sie sich für eine ausschließlich malerische Technik ohne Montage-Elemente und erreicht dabei, daß das diffuse Licht und dessen von der Reflexion des Wassers gesättigten Helligkeit in ihrer Wirklichkeit ablesbar werden. Mit leicht getöntem Firnis fügt sie behutsam farbige Elemente hinzu, um schließlich wieder zu ihrem eigentlichen künstlerischen Anliegen zurückzukehren: Das Licht allein aus der Farbe zu entwickeln. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das Bild, das ein Bankgebäude an einer Straßenkreuzung in der Vorstadt zeigt. Architektur, Straßenverlauf und Farben sind hier in eine stark wirksame Diagonalkomposition eingebunden, deren zentralisierende Funktion der Erscheinung des Baues in der menschenleeren Vorstadtgegend einen zusätzlichen Akzent vermittelt: Auch auf diese Weise lassen sich soziale Gegensätze darstellen; die „Idylle auf den ersten Blick” entlarvt sich bei näherem Hinschauen als das, was sie in Wirklichkeit ist - eine massive Imponierarchitektur als Ausdruck des Reichtums inmitten einer durch Armut gezeichneten Gegend der Stadt.

Starke Farben zeigen die Arbeiten, die sich mit dem Inneren des Kontinents auseinandersetzen. Wieder sind es weiträumige Landschaften mit hohen Himmeln, doch fehlt hier der Silberton der Atmosphäre am Wasser. Erdfarbige Töne beherrschen den Vordergrund und die in Schichten in die Weite sich öffnende Landschaft und bestimmen auch oft den Himmel, dessen die Erde widerspiegelnde flirrende Hitze man zu spüren meint. In anderen Bildern wölbt sich ein umbarmherzig blauer Himmel über der kargen Landschaft; matte Grüntöne kommen hinzu, doch vorherrschend und ins Auge springend ist der Gegensatz zwischen Blau und erdfarbigen Bodenschattierungen. Brauntöne bestimmen auch die Bilder, die Eindrücke aus Cuzco und Lima in Peru verarbeiten. Hier nutzt die Malerin eine Farbigkeit,d ie der erfahrenen Realität entspricht und die sich auch in der Volkskunst der Indios wiederfinden läßt.

Einen großen Anteil an Nicole Eisenbergs südamerikanischem Werk haben die Collagen, die noch greifbarer Elemente der Indiokunst wie Federn, Gold, Stoffe usw. verwenden. Dabei handelt es sich hier jedoch nicht um eine unreflektierte Verwendung exotischer Versatzstücke zur Konstatierung des Fremden, sondern um die sensible Erarbeitung einer Umgebung, die sich dem aufmerksamen Betrachter in Farben und Formen erschließt und nachvollziehend erahnt werden kann.

Davon unterscheiden sich deutlich die Collagen, die in Buenos Aires entstanden sind. Hier geht es nicht so sehr um die Darstellung einer sichtbaren Wirklichkeit als vielmehr um die verschlüsselte Entlarvung der sozialen Gegensätze, die die reicheren Argentinier nicht so gern wahrhaben wollen. Immer wieder finden sich aufgeklebte Geldscheine oder deren Fragmente, daneben auch luxuriöse und alltägliche Verpackungsmaterialien, die neben dem rein ästhetischen Aktzent im Bild mit leiser Ironie die Freude der Kaufenden an den „paquetitos” verkünden - die „schöne Hülle” als Statussymbol steht den Abfallbergen am Ufer des Rio de la Plata gegenüber.

Hat sich Nicole Eisenberg über lange Zeit auf kleine und mittlere Formate für ihre Arbeiten beschränkt, so fühlt sie sich in letzter Zeit immer stärker von der großen Malfläche gefordert. Häufiger treten zwei gleiche Formate zu einem Diptychon zusammen, das in Wirklichkeit „ein” großes Bild ist. Von dort ist es nur ein Schritt weiter zum großen Format der „Plaza de Mayo” und zu den beiden mächtigen Bildern vom Iguazu. Hier schildert sie die mächtigen Katarakte, deren lehmgefärbtes Wasser in vielfarbiger Fülle nierderstürzt und in einer gewaltigen Gischtwolke verschwindet, die alle Farbe in eine weißlich-silbernes Gewölk auflöst - eine einzige Masse von Bewegung und Licht.

Vollzieht man den künstlerischen Weg der Nicole Eisenberg von ihren abstrakten Anfängen bis zu ihren gegenwärtigen intensiven Landschaftsschilderungen nach, so läßt sich feststellen, daß ihre Malerei mit den Jahren, sich kontinuierlich ändernd in Technik und Inhalt, im Bereich der Landschaft immer neue Facetten entdeckt hat. Ihre Aussage: „Die Beschäftigung mit der Landschaft ist die Suche nach der Identität der Landschaft, Suche nach der Wechselbeziehung zwischen Landschaft und Mensch, Suche nach der eigenen Existenz” hat weiterhin zentrale Bedeutung für sie, und sie hat es verstanden, mit ihren künstlerischen Mitteln sich selbst und dem Betrachter neue wichtige Dimensionen zu erschließen: Die Landschaft ist nicht nur Ausdruck ihrer selbst, sondern immer auch der Menschen, die sie bewohnen.

Dr. Jens-Uwe Brinkmann, Städtisches Museum Göttingen
im Katalog zur Ausstellung, 1987


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